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In der Jubiläumsausgabe eines der langlebigsten Musik-Fanzines überhaupt ist ein Artikel erschienen, der die Vergangenheit des Don zum Thema hat und insofern einiges erklären kann:

Westdeutsche Provinz, Mitte der siebziger, Wochentag, nachmittags, 14:10: «Hey and now for you girls and boys and for you GI’s too: something wonderful, wonderful, really wonderful: Five Pieces for Orchestra by Anton Webern.» Mit diesem Satz hat alles angefangen, Wörter, die ich damals kaum verstanden habe, Musik, die neu war, verstörend, ungewohnt. Und das Nachmittags, kurz nach zwei: wie immer, Essen gab es um eins, wenn der Vater aus dem Geschäft hochkam, aß und sich dann auf das Sofa legte. Zwei Stunden Mittagspause, wer kann sich das heute noch vorstellen?

Das Klappen der Wohnzimmertür gab für mich den Startschuss: in mein Zimmer, Tasche auf den Schreibtisch und Radio an. Es war Zeit für Musik nach der Schule auf NDR2. Damals war diese eine Stunde für Schüler eine der wenigen Radiosendungen, die tagsüber etwas anderes spielten als deutschsprachige Volksmusik. Gottseidank waren die GI’s noch im Land und so konnte man bis zum Sonnenuntergang auf BBC ausweichen, erst die Nacht brachte die Erlösung, da gab es Futter für die ausgehungerten Ohren: Roxy Music, Led Zeppelin, Dylan, Golden Earing, Deep Purple usw.

Englisch für Anfänger

Aber zurück zum Nachmittag: Was für eine Stimme war das, die die beiden 10-Watt Lautsprecher der vom Taschengeld mühsam ersparten Lo-Fi-Anlage an die Grenzen ihrer mechanischen Belastbarkeit brachte? Der tiefe Bass gab jedem einzelnen Wort des Studiogastes eine Bedeutung, die noch lange im Kopf nachhallte. Daneben klangen die Moderatoren mit ihrem th-losen Oxford-Englisch wie Zehntklässler, die fleissig Vokabeln gepaukt hatten – und Zehntklässler war man ja schließlich selbst…

Und was für Musik war das, die hier die deutsche Mittagspause untermalen durfte? Anton Webern, Igor Stravinsky, Howlin’ Wolf – eine Mischung von völlig unerwarteten und bis dahin nie gehörten Klängen. Gottseidank hatte das Taschengeld damals auch noch für einen kleinen Kassettenrekorder gereicht, und Gottseidank war eine leere Kassette greifbar und – ja, ich habe den Record-Knopf gedrückt und kann darum aus unmittelbarer Hörerfahrung behaupten, das sowohl die Stimme als auch die ungewöhnliche Musikauswahl auch 40 Jahre danach noch nichts von ihrer Faszination verloren haben.

Studiogast war Frank Zappa, nach eineinhalb Jahren Zwangspause, weil ihn ein eifersüchtiger Fan von der Bühne und damit in den Rollstuhl gestoßen hatte, wieder auf Tour in Deutschland. Zappa spielte nur einen Song einer aktuellen Platte – Village of the Sun von dem Live-Doppelalbum Roxy & Elsewhere – der Rest waren Reminiszenzen an seine musikalische Herkunft, Stück für Stück mit tiefbassiger Begeisterung vorgestellt. Mit Webern, Stravinsky und Varese zeigte er seine Wurzeln in der sogenannten E-Musik an, die hier nicht nur für ernste Musik stand, sondern gleichzeitig auch für das alte Europa und seine Jahrhunderte alte musikalische Tradition – mit Howlin´ Wolf dagegen verwies er auf die ‹neuen›, amerikanischen Traditionen, auf die Musikform, die die neue Welt hervorgebracht hat und die bis heute Nabel und Rückrad der Pop- und Rockmusik ist: den Blues.

Rillen, die die Welt bedeuten

Gut, das war offensichtlich – und doch ganz anders: ein Rock-Musiker, der sich nicht auf Musik bezog, die vor zwei Jahren oder zwei Monaten sondern vor 50 oder 80 Jahre entstanden ist, aus einer anderen Zeit und einem gänzlich anderen Musikspektrum kam, das war neu für mich – und spannend genug, um mich einige Zeit später an die Karstadt-Musiktheke zu setzen und mir One Size Fits All auflegen zu lassen: auch das ein Erlebnis, das zu meinen prägenden Adoleszenz-Erfahrungen zählt und mich heute noch in den Kopf einer pubertierenden Welt zurückversetzt, zusammengesetzt aus gewollt männlichen Posen, politisch ambitioniertem Außerparlamentarismus und dem gleichzeitigen Streben nach Dabei- und Anderssein.

Zugegeben, One Size Fits All hat es mir leicht gemacht: hervorragend produziert, mit einer exzellenten, dynamischen Abmischung und einem Mix aus treibenden Rocksongs, jazzigen Bläserarrangements, drei abwechselnden Lead-Sängern und Zappas krudem Humor at his best zeigt sie mitreissend verdichtet viel von dem, was den künstlerischen Kosmos von Frank Zappa insgesamt ausmacht. Nicht umsonst ist es die Platte, die in Zappa Fanzines wie T´Mersch Duween in der Regel an der Spitze der Leser-Bestenliste steht.1

Did a vehicle come from somewhere out there, just to land in the Andes? – Po-jama people, people, Wrap ‘em upRoll ‘em out, Get ‘em out of my way…Das sind die ersten und letzten Lyrics auf der ersten Seite, danach mußte ich mich entscheiden, denn mehr als eine Plattenseite ließen die Musikberater in den siebziger Jahren, zumindest bei Karstadt, nicht zu. Aber diese vier Stücke mit seltsamer Musik und noch seltsameren Texten hatten mich mit dem Virus infiziert, von dem kein Zappa-Fan je geheilt werden möchte. Die vier Songs boten mehr als genug Stoff zum Nachhören und Nachdenken: von der Parkplatzsuche einige Ausserirdischer in den Anden, über die fröhliche Depression angesichts steigender Schuhpreise bis hin zum Sonderangebot flannelhosentragender Langweiler. Und mittendrin noch ein Instrumentalstück, das am Ende der zweiten Seite mit einem unerwarteten Hauptdarsteller wiederholt wird: da ist es Gott selbst, der sich in radebrechendem deutsch als Schöpfer vieler merkwürdiger Dinge wie Damast-Aspellen und Chrome-Dinetten auf einem roten Sofa imaginiert.

Das Sofa als Konzept

Und dieses rote Sofa schwebte auch auf dem Cover, das ich da in den Händen hielt: mitten im Weltall, ohne den im Text geforderten „Fußbodenbelag“ unter den Holzkufen, wird es von Gott selbst betrachtet und mit einer kleinen Sprechblase, wiederum auf deutsch, gefragt: Divan, Divan… weisst du wer ich bin. Das ganze Cover ist aus der Perspektive Gottes gezeichnet, dessen Hand eine brennende Zigarre hält und unten rechts ins Bild hineinragt. Links oben ist in der Art eines mittelalterlichen Kupferstiches ein ‹musikalische› Weltall abgebildet, das um das Loch in einem Plattelabel kreist und eine Erde, die als Terra del Fuego bis zum Outer Space von den Spären Mono, Stereo und Quadrophonic umgeben ist.

Ein Kosmos aus scheinbar widersprüchlichen, chaotischen Tönen, streng geordnet in den Rillen, die das Plattenzentrum umgeben und mit einem lachenden Herrgott in der Mitte, der mich seine Perspektive einnehmen ließ: vor mir lag die Verlockung einer völlig neuen, komplexen Welt, die offensichlich ohne Scheu vor musikalischen, kulturellen oder moralischen Fehltritten nicht nur Spaß machte, sondern auch etwas zu erzählen hatte. Ohne es damals schon wirklich zu ahnen, hatte ich bei diesen ersten beiden Begegnungen mit Zappa und seiner Musik einen Blick auf die große Note geworfen: Zappas ‹konzeptionelle Kontinuität›, mit der er den Zusammenhang zwischen der großen Bandbreite der von ihm praktizierten Musikstile mit allen anderen medialen Äusserungen als ein Gesamtkunstwerk verstanden haben wollte. «Projekt/Objekt is a term I have used to describe the overall concept of my work in various mediums. Each project (in whatever realm), or interview connected to it, is part of a larger object, for which there is no ‘technical name‘.»2

Einsame Leidenschaften

Mit dem Kauf dieser ersten Zappa-Platte begann für mich der Weg, den wir alle auf eigene Weise gegangen sind, denn jeder Fan baut sich aus seinen Begegnungen mit Zappas komplexem Werk sein eigenes Geflecht aus Anstößen, Überraschungen, Erfahrungen und Gefühlen, also seine eigene ‹individuelle Kontinuität›. Schnittpunkte dieses Netzes sind die initialen Momente, in denen sich einzelne Songs plötzlich neu erschließen oder mit vorher nicht dagewesenen Gefühlen aufgeladen werden, in denen musikalische Zusammenhänge hörbar werden, die vorher noch stumm waren oder in denen diese Musik plötzlich mit Menschen verbunden wird, die genauso leidenschaftlich und kompromisslos mithören wie man selbst. Diese Schnittpunkte sind die wesentlichen. Es sind Momente, in denen man als Fan dem anderen Fan begegnet, in denen die eigene Leidenschaft vorbehaltlos geteilt wird und man sich ihr gemeinsam hingeben kann.

Die euphorische Entgrenzung ist der Sinn der Rockmusik seit ihrer Entstehung aus den Ring Shouts Ende des 19 Jahrhunderts. Diese Entgrenzung heute, 25 Jahre nach dem Tod des Komponisten noch erleben zu dürfen, ist das große Verdienst der Zappanale. Sie ist das Mekka für all diejenigen, die mit diesem besonderen Virus infiziert sind, sie lindert die Symptome und facht die Krankheit gleichzeitig weiter an. Ein Widerspruch, der nur hier, an diesem Ort aufgelöst wird, an dem man als Zappa-Fan so viel schräge Musik in so vielen Variationen mit so vielen wunderbaren Menschen teilen kann.

  1. Ben Watson, The complete Guide to the Music of Frank Zappa, S. 69 ↩︎
  2. Frank Zappa with Peter Ochiogrosso, The real Frank Zappa Book, S. 139 ↩︎

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